Obst vor der Entsorgung retten

Start-up-Unternehmen „Obst verbindet“ setzt sich gegen Lebensmittelverschwendung ein

VON LOTHAR H. BLUHM

Ich find die Idee so toll, dass ich da mitmachen muss“, sind sich Anna-Lena Böttcher und Sandra Buhr einig: Beide sind Lebensmittel-Retter und verteilen Waren, die es gar nicht erst in den europäischen Einzelhandel schaffen. Gründe dafür sind landwirtschaftliche Überschussproduktion
oder dass die Ware nicht der Norm entspricht, weil sie zu klein, zu groß oder zu unförmig ist oder sie sonstige „Schönheitsfehler“ aufweist. Auch ein zu kurzes oder bereits überschrittenes
Mindesthaltbarkeitsdatum sorgt dafür, dass die Ware aus den Handelsketten verbannt wird.
Anna-Lena Böttcher aus Wietze und Sandra Buhr aus Hermannsburg sowie ihre Celler Kollegin Tina Tannert arbeiten aktiv gegen Lebensmittelvernichtung an. Alle drei betreiben in ihren Orten jeweils eine Verteilstation des Bielefelder Start-ups „Obst verbindet“. Von ihnen holen die Kunden ihre online vorbestellten und bereits bezahlten Obstkisten ab. Mittwochnachmittag in Wietze. Das
Thermometer zeigt elf Grad, der Wind weht frisch aus östlicher Richtung. Die Kälte steigt empfindlich in die Kleidung. Das große auffällige Poster an der Straße weist den Weg zur Abholstation. Heute wurden 22 Obstkisten und einige Specials angeliefert. „Die Kunden kommen dann gleich“, ist Anna-Lena Böttcher zuversichtlich, dass es mit der Weitergabe der Waren
klappen wird. „Es gab schon mal Tage, an denen hier 130 Kisten ausgeliefert wurden – aber das war sehr viel“, zieht Böttcher ein kurzes Fazit ihrer Zeit für „Obst verbindet“. Seit Februar ist sie dabei, „seit den Sommerferien war es etwas ruhiger, aber so haben wir mehr Zeit, miteinander zu sprechen, denn es kommen immer freundliche Menschen.“ Und dann zeigt die 34-Jährige
auf die gestapelten Kartons: „Das alles würde sonst im Müll landen.“ Die Zehn-Kilo-Kisten Big-Family-Mix mit Obst und Gemüse, die Single-Kisten Obst mit 3,5 Kilogramm Früchten wie
Bananen, Äpfeln, Kiwis oder Weintrauben. Oder die Family-Kiste mit sieben Kilogramm Obst. Oder auch die Flasche „Freibeuter“ mit acht Jahre altem Rum …

“Obst verbindet“ ist ein junges Startup, das im Juni 2021 gegründet wurde und das sich für mehr Wertschätzung von bereits produzierten Lebensmitteln einsetzt. „Unser Konzept basiert auf Nachhaltigkeit entgegen jeglicher Art der Lebensmittelverschwendung“, beschreibt sich das Unternehmen selbst. „Durch die direkte Zusammenarbeit mit den Erzeugern, Produzenten und Großhändlern retten wir aus den unterschiedlichsten Handelsstufen der Lieferkette diese wertvollen Waren, führen diese wieder zurück in den Kreislauf und schließen damit eindeutig
eine bisher unberücksichtigte Lücke entlang der Wertschöpfungskette.“ Ganz im Sinne der nationalen Strategie gegen Lebensmittelverschwendung. So schafft das Start-up mit seinen Verteilstationen eine zusätzlich nachhaltige Lösung. „Jeder Einzelne kann mitretten und schont
dabei nicht nur die Umwelt, sondern auch den Geldbeutel.“ – „Die Wertschätzung dieser Lebensmittel steht für uns im Fokus“, sagt dann auch Sandra Buhr. Die hauptberufliche Erzieherin
und zweifache Großmutter hat sich im Mai den Lebensmittel-Rettern angeschlossen.
Als sie von dem Start-up hörte, war sie sofort begeistert, musste aber doch ein wenig nachdenken, was ihre Selbstständigkeit und den Zeitaufwand betrifft. „Ich probier‘ es mal“, habe sie sich dann gesagt und ihr Gewerbe angemeldet. Über Facebook hat sie dann die ersten Kunden akquiriert.
„Und es läuft gut“, ist sie zufrieden. Na gut, Geld könne man damit nicht verdienen, meinen beide Retterinnen. Sieben Prozent zahlt ihnen das Startup für ihren Aufwand. Sieben Prozent zum Beispiel von der 3,5-Kilo-Single-Gemüse-Kiste zum Preis von 6,75 Euro. „Glatte 47,25 Cent“, hat die studierte
Betriebswirtin Anna-Lena Böttcher schnell ausgerechnet. 47,25 Cent für die Annahme der Kiste, für das Durchsehen und für das Weitergeben an die Kunden. Die 47,25 Cent werden zudem versteuert. Und: „Man nimmt jede Kiste zweimal in die Hand.“ Täglich landen Millionen Tonnen überschüssiger und noch genießbarer Lebensmittel, insbesondere Obst und Gemüse, im Müll. Wenn sich nicht
umgehend weiterverarbeitende Abnehmer finden, werden diese Lebensmittel entsorgt. „Durch die Verschwendung gehen nicht nur die Lebensmittel allein verloren, sondern auch die zur Herstellung benötigten Ressourcen. So werden landwirtschaftliche Flächen belegt, Ressourcen wie Wasser
und Düngemittel aufgebracht sowie Emissionen freigesetzt“, weiß Böttcher. Schließlich trage dies auch in beachtlichem Ausmaß zum Klimawandel bei. Und: „Lebensmittel gehören nicht in
die Tonne!“ Durch die wichtige Arbeit der wohltätigen Organisationen wie Tafeln werden sehr viele überschüssige Lebensmittel bereits gerettet, vorrangig, was bei Supermärkten, Bäckereien
und anderen Händlern am Ende der Handelskette übrigbleibt. „Die Tafeln leisten Hervorragendes. Sie sind für uns überhaupt keine Konkurrenz, denn wir setzen ja bereits früher an“, unterstreicht dann auch Sandra Buhr. Seien es Früchte oder andere Artikel mit Schönheitsfehlern oder Saisonartikel, Produktionsfehler oder auslaufende Verpackungen oder ein zu kurzes Mindesthaltbarkeitsdatum. „Ich find das super“, ist Susanne Wicke aus Meißendorf begeistert. Sie
schnappt sich schnell den Freibeuter-Rum und bittet ihren siebenjährigen Enkelsohn Bennett die bestellte Kiste zum Auto zu tragen. Und der macht das gern. „In der kalten Jahreszeit ist der Rum gerade richtig – und das zum halben Preis …“

„Das ist jetzt Deine Kiste“, wird Sara Hellie aus Wietze empfangen. Sie ist zum ersten Mal dabei: „Ich
find die Aktion gut!“ Sie habe von einer Freundin von „Obst verbindet“ gehört und gedacht: „Das probier‘ ich mal aus!“, sagt sie und ist begeistert. Mehr oder weniger regelmäßig bestellt auch Nicole de Schipper aus Thören ihre Retterkisten: „Ich find‘ das super!“ Super fand Tina Tannert aus Celle die Resonanz aufgrund ihrer Facebook-Initiative: Da haben sich gleich einige Interessenten gemeldet und Kisten bestellt: „Es könnten ruhig ein paar mehr sein“, hat sie die Hoffnung, dass sich auch in Celle rumspricht, dass hier Lebensmittel vor dem Müll gerettet werden können.

Mehr Informationen unter
www.obst-verbindet.de
Folgende drei Verteilerstationen
sind im Celler Land vorhanden:

  • Celle, Tina Tannert: Mittwoch,
    16.30 bis 18 Uhr (14-tägig an ungeraden
    Kalenderwochen)
  • Hermannsburg, Sandra Buhr:
    Mittwoch, 17 bis 18 Uhr
  • Wietze, Anna-Lena Böttcher:
    Mittwoch 16.30 bis 18 Uhr.